Es geht um Leben und Tod

Tierärztlicher Notdienst nicht mehr gesichert

Kay-Helge Hercher Betzdorf | Haustierbesitzer kennen das: Es ist Wochenende, Feiertag oder später Abend – ausgerechnet jetzt hat sich die Katze eine Verletzung zugezogen, der Hund irgendetwas verschluckt. Oder der Hamster rührt sich kaum noch. Der Schreck ist groß, die Suche nach einem Tierarzt, der Notdienst schiebt, nervenaufreibend. Und das Finden adäquater Hilfe wird nicht einfacher: Die Betzdorfer Tierklinik – erste Anlaufstelle für Tierfreunde im Umkreis von 100 Kilometern im Notfall – schränkt ab 1. Dezember ihre Notdienstzeiten ein. Damit steht die renommierte, überregional aktive Klinik nicht allein da. In der jüngeren Vergangenheit haben immer mehr Tierärzte und Kliniken den Notdienst gleich komplett eingestellt. Die Gründe: Es fehlt allerorten an Fachpersonal, das Einhalten des Arbeitszeitschutzgesetzes rund um die Uhr macht es nicht einfacher. Kostendeckendes Arbeiten, trotz Erhöhung der Notdiensttarife gemäß tierärztlicher Gebührenordnung, ist oftmals nicht mehr möglich; zudem sorgen die vielen Bagatellfälle für eine Überlastung der Notdienste.

Vor diesem Problemberg steht auch die Tierklinik Betzdorf mit ihren 15 Ärzten und gut 50 tiermedizinischen Fachangestellten. Die geschäftsführenden Tierärzte Florian Köhler und Andreas Borggräfe müssen „die Reißleine ziehen“, sagen sie. Mit fatalen Folgen für die Notdienstversorgung im weiten Umkreis: Statt der bisherigen Rund-um-die-Uhr-Betreuung steht das Personal täglich „nur noch“ von 7 bis 22 Uhr zur Verfügung. Borggräfe: „Der nächtliche Notdienst kann unter den gegebenen Umständen nicht weiter aufrecht erhalten werden!“ Immerhin: Die Betzdorfer sind noch an 365 Tagen im Jahr präsent!

Die geschäftsführenden Tierärzte Andreas Borggräfe (l.) und Florian Köhler müssen die Reißleine ziehen – mit fatalen Folgen für die Notdienstversorgung im weiten Umkreis. (Fotos: Kay-Helge Hercher)

Das Einzugsgebiet der Tierklinik ist enorm – die kleinen und großen Patienten aus der Tierwelt kommen aus den Kreisen Altenkirchen, Olpe, Siegen-Wittgenstein, dem Bergischen Land, dem Hochsauerlandkreis, dem Lahn-Dill-Kreis und teils darüber hinaus. Im weiten Umkreis gibt es keine andere vergleichbare Klinik für tiermedizinische Notfälle.

„Die Ursachen für den Notstand in der veterinärmedizinischen Notdienstversorgung sind vor allem im Mitarbeitermangel und dem gleichzeitig steigenden Patientenaufkommen zu sehen. Diese Problematik zeigt sich nicht nur bei uns in Betzdorf, sondern deutschlandweit und auch international,“ so Köhler im Gespräch mit der Siegener Zeitung.

Er und Borggräfe sind sich der Konsequenzen wohl bewusst. „Wenn wir die Notdienstzeiten reduzieren, ist ein höherer Andrang in den haustierärztlichen Praxen zu erwarten. In vielen kleineren Praxen kann eine umfassende Notfallversorgung an Wochenenden und in der Nacht nicht geleistet werden. Chirurgische Eingriffe und eine stationäre Überwachung der tierischen Patienten sind in der Regel nur bedingt gewährleistet“, so Andreas Borggräfe.

Der in der Tierklinik Betzdorf angestellte Tierarzt Sören Eilert untersucht zusammen mit Lilly Mazzotta, Auszubildende zur Tiermedizinischen Fachangestellten, die Französische Bulldogge Emma.

Dies mache für die Tierbesitzer zukünftig eine weite Fahrt zur nächstgelegenen Klinik notwendig. Wer zur Tierklinik Gießen, Hofheim oder Stommeln wolle, müsse mit einer Anfahrtszeit von durchschnittlich 1,25 Stunden rechnen – je nach Notfall kann es ob der langen Anfahrtswege für das ein oder andere Tier zu spät sein.

Die Tierklinik Betzdorf in der Eberhardystraße kann ab Dezember nur noch zu eingeschränkten Zeiten für Notfälle angefahren werden.

„Es geht um Leben und Tod für die Haustiere! Die Politik ist gefordert, eine Lösung zu finden. Wir als Tierärzte stehen mit dem Rücken zur Wand. Wir wollen zwar helfen, aber es geht einfach nicht mehr. Wir sind sowohl physisch als auch psychisch am Limit“, macht Tierarzt Köhler mit Nachdruck klar.

Die Situation wird sich so schnell nicht entspannen. Mit der Pandemie und den Lockdown-Wellen kam auch der „Haustiertrend“. Neue Zahlen des Zentralverbands zoologischer Fachbetriebe zeigen, dass im Corona-Jahr 2020 die Zahl der Heimtiere in deutschen Haushalten, im Vergleich zum Vorjahr, um über eine Million gestiegen ist. Insgesamt lebten 2020 über 39 Millionen Tiere unter deutschen Dächern. Dabei gibt es im Vergleich zu 2019 – mit einem Zuwachs um 1,6 Millionen – deutlich mehr Katzen und Hunde.

Was ist ein tiermedizinischer Notfall?

Im Notfalldienst werden Patienten außerhalb der üblichen Sprechzeiten, nachts, an Wochenenden und Feiertagen tierärztlich versorgt. Bei Notfällen sind ohne sofortige Hilfeleistung erhebliche gesundheitliche Schäden oder der Tod des Patienten zu befürchten. Einen solchen Notfall am eigenen Haustier zu erkennen, ist durch die emotionale Verstrickung nicht immer leicht.

Sollte ein Haustier bereits seit einiger Zeit Symptome zeigen, die plötzlich beunruhigen, so ist zunächst zu überlegen, ob der Tierarztbesuch bis zum nächsten Werktag warten kann. Der Notfalldienst sollte Notfällen vorbehalten sein, da deren Behandlung viel Zeit in Anspruch nehmen kann. Außerdem zu erheblichen Wartezeiten kommen. Routinebehandlungen, Impfungen oder Behandlungen von Erkrankungen, die bereits seit Längerem bestehen und sich nicht plötzlich als lebensbedrohlich darstellen, sind keine Notfälle.

Als Notfall sind folgende Krankheitsbilder zu klassifizieren: Atemnot; Bewusstseinsverlust; Zusammenbruch; stärkere oder unstillbare Blutung; sehr helle Schleimhäute; Harnverhaltung; Krampfanfälle; anhaltender blutiger Durchfall oder blutiges Erbrechen in Kombination mit zunehmender Schwäche; plötzliche Lähmungen der Beine; Augenverletzungen; Verschlucken von Fremdkörpern oder Giften; Verbrühungen oder Verbrennungen; Hitzschlag; schwerer Verkehrsunfall

Die Kosten für eine Notfallbehandlung liegen um ein Vielfaches über denen einer Behandlung innerhalb der normalen Sprechzeiten, unter anderem bedingt durch die Bereitstellung des fachkundigen Personals für den Notdienst. Die Berechnung der Notfallbehandlung ist durch die Gebührenordnung für Tierärzte (GOT) geregelt. Es muss bei einem Tierarztbesuch zu Notdienstzeiten eine pauschale „Notdienstgebühr“ in Höhe von knapp 60 Euro pro Patient berechnet werden. Zusätzlich muss für tierärztliche Leistungen im Notdienst mindestens der 2-fache bis hin zum 4-fachen Satz der GOT abgerechnet werden.

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